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Treppenkäferzug

Aufstellort: LGS-Treppe
Idee: Eleonore Gösel
Umsetzung: Eleonore Gösel, Anne Jödicke
Geschichte von: Ines Gast
Finanziert von: JugendSozialwerk Nordhausen e. V.

Volker Bank lebte für seinen Job als Bankangestellter. Frühmorgens der Erste und abends der Letzte, immer vollständig vertieft in seine Aufgaben. Er bemerkte nichts von den „süßen, wohlbekannten Düften, die ahnungsvoll das Land streiften“, er hatte kein Auge für die „auf und nieder tanzenden Schneeflöckchen“, er sah weder die „roten Blätter fallen“, noch die „grauen Nebel wallen“. Nur den Sommer gelang es ihm nicht immer zu ignorieren. Wenn es gar zu heiß und drückend wurde, konnte ihm schon einmal ein tiefer Seufzer über die Lippen gleiten.

So verging der Frühling seines Lebens und auch der Sommer, ohne dass jemals irgendetwas ihn ernsthaft von seiner Leidenschaft für Zahlen auf dem Papier hätte lösen können. Keine Null war ihm zu klein, kein Komma zu unbedeutend. Auf ihn war in jeder Bankhinsicht Verlass.

Jedoch an einem dieser heißen Sommertage, die die Luft zum Flirren und ihn ab und an zum Seufzen brachten, geschah das Unerhörte. Etwas bewegte sich in einer der Hitze angemessenen Langsamkeit über sein mit Zahlen übersätes Blatt. Zunächst glaubte Volker Bank der Hitze wegen seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Warum sonst hätte die Zahl, auf der sein Blick gerade klebte, plötzlich nicht mehr in Gänze zu überblicken gewesen sein sollen. (Klasse, Volker Bank liebt Zahlen, ich liebe komplizierte aber doch perfekte grammatische Konstruktionen: „zu überblicken gewesen sein sollen“ – das hat was! Aber zurück zum eigentlichen Geschehen!) Volker Bank seufzte. Und er blinzelte mit den Augen. Und da war es geschehen. Seine Augen fanden nicht zurück an die Stelle, die sie gerade verlassen hatten. Wie auch, die Zahl hatte ja von ihnen noch nicht vollständig erfasst werden können. Ein Teil fehlte. Und es war vollkommen unklar, ob es sich dabei um eine belanglose Null hinter dem Komma oder irgendetwas davor gehandelt hatte. Volker Bank schwitzte. Er hatte sowieso geschwitzt. Aber dies war nicht der Rede wert gewesen, es war der Sommerhitze geschuldet. Zu diesem Schwitzen gesellte sich nun ein zweites, mit dem ersten überhaupt nicht vergleichbares, weil unerhörtes, Schwitzen. Volker Bank schwitzte Blut und Wasser. Ehrlich. Noch nie ist diese Phrase wahrhaftiger gewesen, als in diesem Fall. Beweis genug sind die weiteren Entwicklungen. Volker Bank verließ seinen Platz am Bankschalter. Nicht als Letzter, nachdem alle anderen schon längst gegangen waren. Er verließ seinen Platz mitten am Tag. Ohne jede Ankündigung, ohne erkennbaren Grund. Alle seine Kollegen und alle Kunden starrten Volker Bank an. Hier war etwas im Gange, das so unerwartet kam wie Schnee im Juli.

Volker Bank verließ nicht nur seinen Platz, er verließ auch das Haus. Er folgte instinktiv dem Wesen, das sein Zahlenblatt gekreuzt hatte, das sein Leben aus der Bahn gebracht hatte. Als er auf die Straße trat, wandte er seine Schritte nach links. Er überquerte eine Straße, dann noch eine, und unmittelbar danach fand er sich am Fuße einer Treppe wieder. Eine schöne Treppe, eine breite Treppe, in einem spitzen Winkel auf ihn zulaufend, als wollte sie ihn aufspießen. Abrupt blieb Volker Bank stehen.

Da saß dieses seltsame Wesen, das seinen Weg so nachdrücklich gekreuzt hatte, zu seinen Füßen, auf der untersten Stufe der Treppe und war offenbar gerade im Begriff die nächste Stufe zu erklimmen. Volker Bank schaute genauer hin. Er zählte sechs Beine und übersah auch die Punkte auf dem halbkreisförmigen Rumpf nicht, der zudem von zwei Flügeln bedeckt wurde. Am auffälligsten aber war der große Hut, aus dem zwei lange Fühler schauten. Nach allem, was neben Zahlen in seinem Kopf hängen geblieben war, musste es sich hier um einen Käfer handeln. Und er war nicht allein. Ein ganzer Käferzug krabbelte im Gänsemarsch die Treppe hinauf.

Volker Bank musste jetzt sehen, wohin sie wollten. Er gab Acht, die Käfer nicht zu berühren und stieg die Stufen daher nur langsam nach oben. Je höher er kam, desto weiter öffnete sich sein Blick. Blumen übersäte Beete wurden sichtbar, dicke Seile, die zwischen hohen Pfählen gespannt waren, ein sehr hoher steiler Stein, an dem Menschen wie Käfer hinaufkletterten, weiter entfernt ein Turm, der weit über das Land ragte. Der Lärm der Stadt trat in den Hintergrund. Volker Bank hielt den Atem an. Er spürte plötzlich den leichten Sommerwind, der seinen Schweiß getrocknet hatte, der Duft der Blumen kitzelte in seiner Nase, der unbefleckte blaue Himmel tat seinen Augen gut. Er setzte sich auf das Rondell oberhalb der Treppe und atmete ganz tief, ganz bewusst ein. Er spürte plötzlich sein Blut pulsieren. Er lebte! Lange saß Volker Bank in Gedanken versunken. Seine Kollegen, die ihm in Sorge und Verwunderung gefolgt waren, waren gebannt auf den Treppenstufen stehen geblieben. In Gänseformation wie die Käfer, die sich langsam aber gleichmäßig nach oben bewegten. Es war klar, dass sie genau wussten, wohin sie wollten. Sie öffneten Horizonte.

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